6.1 Kirchliches Arbeitsrecht

1.    Einführung

Das Grundgesetz ermöglicht den Kirchen durch das sog. Selbstbestimmungsrecht, ihre eigenen Angelegenheiten selbstständig zu ordnen und zu verwalten (Art. 140 GG i. V. m. Art. 137 Abs. 3 WRV). Die Gestaltung von Arbeitsverhältnissen ist nach kirchlichem Selbstverständnis eine solch „eigene Angelegenheit“.[1]

Grundsätzlich ist zu unterscheiden zwischen den Arbeitsverhältnissen mit den in einer Diözese inkardinierten Priestern (vgl. 2.3.1 Pastorales Personal: Priester [Kommentar]), mit Ordensangehörigen auf der Grundlage eines Gestellungsvertrages, mit Kirchenbeamten (vgl. Kirchenbeamtenstatut) (öffentlich-rechtliche Arbeitsverhältnisse)[2] sowie mit pastoralen (vgl. 2.3.2 Pastorales Personal: Laien [Kommentar]) und sonstigen Angestellten (privatrechtliche Arbeitsverhältnisse[3]). Als „kirchliches Arbeitsrecht“[4] wird i. d. R. nur jener Bereich bezeichnet, in dem kirchliches und staatliches Recht zur Gestaltung privatrechtlicher Arbeitsverhältnisse vereint werden. Für alle anderen der o. g. Arbeitsverhältnisse – mit Ausnahme der Gestellungsverträge[5] – gelten rein kirchenrechtliche Vorschriften. Das kirchliche Arbeitsrecht findet dabei nicht nur im Bereich der verfassten Kirche Anwendung, sondern gilt durch freiwillige Übernahme auch in rechtlich selbstständigen kirchlichen Einrichtungen wie bspw. der Caritas[6].

Die wichtigste Rechtsquelle des kirchlichen Arbeitsrechts ist die „Grundordnung des kirchlichen Dienstes im Rahmen kirchlicher Arbeitsverhältnisse“(➜ Kommentar) (GrO) in ihrer jeweils geltenden Fassung. Sie regelt in zehn Artikeln sowohl das kollektive (Verhältnis zwischen Vertretungsorganen der Arbeitnehmer- und der Arbeitgeberseite) (vgl. 6.1.2 Kollektivarbeitsrecht) als auch das individuelle  Arbeitsrecht (Verhältnis zwischen Arbeitnehmer und Arbeitgeber) (vgl. 6.1.1 Individualarbeitsrecht). Alle Diözesanbischöfe in Deutschland haben die aktuelle Fassung der Grundordnung zum 1. Januar 2016 in Kraft gesetzt.

2.    Individualarbeitsrecht

Im Bereich des Individualarbeitsrechts sind die kirchenspezifischen Anforderungen an die private Lebensführung kirchlicher Mitarbeiter maßgeblich: Mit diesen sog. Loyalitätsobliegenheiten[7]  (Art. 4 GrO) (➜ Kommentar: „Grundordnung“) greift das kirchliche Arbeitsrecht deutlich weiter ins Privatleben der Beschäftigten ein als dies nach staatlichem Recht[8] allein zulässig wäre. Die Loyalitätsobliegenheiten kirchlicher Mitarbeiter:innen unterscheiden sich je nach Konfession bzw. Religion und Verkündigungsnähe der jeweiligen Tätigkeit. Verstöße gegen Loyalitätsobliegenheiten können zur Kündigung führen (Art. 5 GrO).

Aktuelle Entwicklungen: Als Reaktion auf die Initiative #OutInChurch[9], bei der sich 125 in der katholischen Kirche tätige Personen als queerouteten, verkündigten einige Diözesanbischöfe und Generalvikare, die die persönliche Lebensführung betreffenden Teile der Grundordnung auszusetzen bzw. nicht anwenden zu wollen.[10] Für die Diözese Rottenburg-Stuttgart wurde eine solche Selbstverpflichtung durch Bischof Gebhard Fürst nicht abgegeben. Die deutschen Bischöfe arbeiten gegenwärtig an einer grundlegenden Überarbeitung der Grundordnung, in der die persönliche Lebensführung der Mitarbeitenden eine geringere Rolle spielen soll. Wann diese veröffentlicht und in Kraft treten wird, ist noch nicht bekannt. Der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz (DBK), Bischof Georg Bätzing, kündigte eine erste Lesung im Ständigen Rat der DBK für Juni 2022 an.[11]

3.    Kollektivarbeitsrecht

Im Bereich des kollektiven Arbeitsrechts gilt: Die Kirchen schließen i. d. R. keine Tarifverträge. Auch Streik, Arbeitskampf und Aussperrung gibt es im kirchlichen Dienst nicht, weil dies als mit dem kirchlichen Selbstverständnis nicht vereinbar gilt. Stattdessen haben die Kirchen ein eigenes gleichwertiges Regelungsverfahren entwickelt, den sog. Dritten Weg[12]. Die Arbeitsbedingungen (bspw. Urlaub, Vergütung oder Arbeitszeit) werden im kirchlichen Dienst weder einseitig durch den Arbeitgeber (Erster Weg) noch durch Tarifverhandlungen mit etwaigem Arbeitskampf (Zweiter Weg) festgelegt.[13] Der „Dritte Weg“ geht stattdessen von einem partnerschaftlichen und kooperativen Miteinander von Mitarbeiter:innen und Dienstgeber aus: Vertreter:innen beider Seiten verhandeln die Arbeitsbedingungen deshalb in paritätisch besetzten sog. Arbeitsrechtlichen Kommissionen[14] (Art. 7 Abs. 1 GrO). Grundlage dieser kirchlichen Besonderheiten ist als Leitbild des kirchlichen Arbeitsrechts die sog. „Dienstgemeinschaft[15]. Demnach wirken alle im kirchlichen Dienst tätigen Personen – unabhängig von Status, Funktion und Religion – gleichwertig an der Erfüllung des kirchlichen Sendungsauftrages mit (Art. 1 Abs. 1; Art. 2 Abs. 3 GrO). Einen streitigen Gegensatz der Interessen von Dienstgeber und Arbeitnehmer:innen kann es deshalb nach kirchlichem Verständnis nicht geben. Auf Bistumsebene erfolgt die Arbeitsrechtssetzung für die verfasste Kirche sowie die sonstigen rechtlich selbstständigen Rechtsträger (mit Ausnahme der Caritas[16]) durch die jeweilige Bistums-KODA (vgl. Bistums-KODA-Ordnung; Bistums-KODA-Wahlordnung) und durch die überdiözesane Zentral-KODA (Caritas inklusive) (vgl. Zentral-KODA-Ordnung; Zentral-KODA-Wahlordnung).

Aufgrund dieses Selbstverständnisses sind die Kirchen auch von der Geltung des staatlichen Betriebsverfassungs- und Personalvertretungsrechts ausgenommen (§ 118 Abs. 2 BetrVG; § 112 BPersVG). Daher gibt es im kirchlichen Dienst keine Betriebs- oder Personalräte. Die Mitwirkung der Mitarbeiter:innen an der Gestaltung ihrer Arbeitsbedingungen geschieht durch eigens gewählte Mitarbeitervertretungen[17] (MAV) (vgl. MAVO; Regelungen für die Diözese, Dekanate, Kirchengemeinden und Gesamtkirchengemeinden zur Bildung von Einrichtungen und Sondervertretungen) in den jeweiligen Einrichtungen.

Seit Neuestem können sich die Gewerkschaften aber organisatorisch am kirchlichen Arbeitsrechtssystem beteiligen (Art. 6 Abs. 3 GrO).[18] Auch kirchliche Mitarbeiter:innen können neuerdings Zusammenschlüsse zur Gestaltung ihrer Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen bilden bzw. sich Gewerkschaften anschließen (Art. 6 Abs. 1 GrO). Diese Koalitionen können innerhalb der kirchlichen Einrichtung für sich werben, über den Beitritt informieren sowie Mitglieder betreuen (Art. 6 Abs. 2 GrO). Sie können zudem Vertreter:innen in arbeitsrechtliche Kommissionen entsenden; diese werden dann den Vertreter:innen der Mitarbeiterseite zugerechnet. Vereinigungen bzw. Gewerkschaften, die diese Beteiligungsmöglichkeiten nutzen, müssen dabei aber das kirchliche Selbstbestimmungsrecht achten und die Eigenart des kirchlichen Dienstes respektieren. Das Anrecht auf Beteiligung darf nämlich nicht dazu genutzt werden, den „Dritten Weg“ zu unterwandern (Art. 6 Abs. 4 GrO).

Etwaige arbeitsrechtliche Konflikte werden im Bereich des individuellen Arbeitsrechts vor staatlichen Gerichten ausgetragen (Art. 10 Abs. 1 GrO). Für Streitigkeiten, die das Kollektivarbeitsrecht betreffen, gibt es eine eigene kirchliche Arbeitsgerichtsbarkeit (Art. 10 Abs. 2 GrO).[19] In der ersten Instanz sind die jeweiligen diözesanen bzw. überdiözesanen Arbeitsgerichte zuständig, in der Diözese Rottenburg-Stuttgart also das Kirchliche Arbeitsgericht (KAG) in Rottenburg (vgl. Errichtungsdekret). Als zweite Instanz fungiert auf der Ebene der Deutschen Bischofskonferenz der Kirchliche Arbeitsgerichtshof (KAGH) (vgl. KAGO) mit Sitz in Bonn.

Autorin: Sarah Röser, zuletzt aktualisiert am: 01.04.2022.

Fußnoten

[1] Hierzu grundlegend BverfG, Urt. v. 04.06.1985 – 2 BvR 1703/83, 1718/83, 856/84.

[2] Vgl. Art. 140 i. V. m. Art. 137 Abs. 5 WRV. Zum Dienstrecht der Geistlichen und Kirchenbeamten siehe Dieter Pirson, Das kircheneigene Dienstrecht der Geistlichen und Kirchenbeamten, in: Joseph Listl/Dieter Prison (Hg.), Handbuch des Staatskirchenrechts der Bundesrepublik Deutschland Bd. 2, Berlin 21995, 845–875.

[3] Vgl. Michael Germann, Die „bürgerliche Wirkung“ des kirchlichen Dienst- und Arbeitsrechts, in: Wolfhard Kohte/Nadine Absenger (Hg.), Menschenrecht und Solidarität im internationalen Diskurs. Festschrift für Armin Höland, Baden-Baden 2015, 502–528.

[4] Grundlegend zum kirchlichen Arbeitsrecht siehe Reinhard Richardi, Arbeitsrecht in der Kirche. Staatliches Arbeitsrecht und kirchliches Dienstrecht, München 82020.

[5] Siehe hierzu Gregor Thüsing/Tom Stiebert, Die Zukunft von Gestellung in Diakonie und Caritas. Zugleich eine Anmerkung zu EuGH vom 17.11.2016, Ruhrlandklink, in: Zeitschrift für Arbeits- und Tarifrecht in Kirche und Caritas 4 (2016) 178–183.

[6] Der Deutsche Caritasverband (DCV) hat in Wahrnehmung seiner Satzungsautonomie die Grundordnung übernommen und auch seine angeschlossenen Einrichtungen zur Übernahme verpflichtet. Erfolgt keine Übernahme der Grundordnung bzw. wird diese Anforderung nicht mehr erfüllt, droht der Caritas-Einrichtung der Verbandsausschluss (§ 2 Abs. 4; § 12 Abs. 1 lit. b Verbandsordnung DCV).

[7] Grundlegend hierzu Richardi, Arbeitsrecht (Anm. 4), 73–77; siehe auch: Klaus Lüdicke, Loyalität und Arbeitsverhältnis im Kirchendienst, in: Engagement. Zeitschrift für Erziehung und Schule (4/2002) 236–249.

[8] Vgl. § 242 BGB (Leistung nach Treu und Glauben).

[9] Vgl. Initiative #OutInChurch. Für eine Kirche ohne Angst, URL: https://outinchurch.de/ (zuletzt abgerufen am 21.03.2022). Siehe dazu auch den Film „Wie Gott uns schuf. Coming out in der katholischen Kirche“ (Erstausstrahlung am 24.01.2022 in der ARD).

[10] Vgl. Sarah Röser, Belastungsprobe. Kirchliches Arbeitsrecht nach „Out in Church“, in: Herder Korrespondenz 76 (4/2022) 49–51. Aus rechtlicher Sicht handelt es sich jedoch um bloße Ankündigungen, die keine Verbindlichkeit entfalten. Es sind Selbstverpflichtungen ohne Rechtsanspruch auf Weiterbeschäftigung oder gar auf Einstellung.

[11] Vgl. Pressebericht des Vorsitzenden der Deutschen Bischofskonferenz, Bischof Dr. Georg Bätzing, anlässlich der Pressekonferenz zum Abschluss der Frühjahrs-Vollversammlung der Deutschen Bischofskonferenz am 10. März 2022 in Vierzehnheiligen, Pressemeldung Nr. 034, hg. v. Sekretariat der DBK, Bonn 2022, 6f.

[12] Siehe hierzu Steffen Klumpp, Von der Gleichwertigkeit des Dritten Weges und des Tarifvertragssystems, in: Kirche & Recht 19 (2012) 176–192; Renate Oxenknecht-Witzsch, Dritter Weg und Tarifsystem im Kampf um gerechte Arbeitsbedingungen, in: Joachim Eder/Günter Däggelmann/Renate Oxenknecht-Witzsch (Hg.), Zentrale Arbeitsvertragsgestaltung in der Kirche: Ausweg oder Irrweg. Festschrift für Georg Grädler zur Verabschiedung aus der Zentral-KODA, Köln 2012, 70–77.

[13] Vgl. Erhard Schleitzer/Jan Jurczyk, Erster, Zweiter, und „Dritter Weg“, in: www.verdi.de/++co++4fda84b0-ee5c-11e0-5cea-0019b9e321cd (zuletzt abgerufen am 22.03.2022).

[14] Vgl. allgemein Hermann Lührs, Die Zukunft der arbeitsrechtlichen Kommission. Arbeitsbeziehungen in den Kirchen und ihren Wohlfahrtsverbänden Diakonie und Caritas zwischen Kontinuität, Wandel und Umbruch, Baden-Baden 2010, ins. 67–74. Spezifisch für den Bereich der Caritas vgl. Helmut Vollmar, Geschichte der Arbeitsrechtlichen Kommission des Deutschen Caritasverbandes, in: Dominik Schwaderlapp (Hg.), Aus der Praxis des Arbeitsrechts und Personalwesens in den deutschen Bistümern, Bad Honnef 2006, 59–67.

[15] Siehe hierzu grundlegend Richardi, Arbeitsrecht (Anm. 4), 39–46; Norbert Feldhoff, Dienstgemeinschaft – Idee und Wirklichkeit, in: Zeitschrift für Arbeits- und Tarifrecht in Kirche und Caritas 1 (2013) 149–152; kritische Anmerkungen zur Dienstgemeinschaft bei Hermann Lührs, Kirchliche Dienstgemeinschaft. Genese und Gehalt eines umstrittenen Begriffs, in: Kirche & Recht 13 (2007) 220–246, 228–230.

[16] Für die Mitarbeiter der Caritas ist die „Arbeitsrechtliche Kommission des Deutschen Caritasverbandes“ zuständig. Einschlägig für ihre Arbeit ist die „Ordnung der Arbeitsrechtlichen Kommission des Deutschen Caritasverbandes“.

[17] Siehe hierzu Günter Däggelmann, Interessensvertretung der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im Mitarbeitervertretungsrecht (MAVO) der Dienstgemeinschaft der katholischen Kirche, in: Eder et al., Arbeitsvertragsgestaltung (Anm. 12), 127–137.

[18] Vgl. hierzu Thomas Schwendele, Der Dritte Weg der Katholischen Kirche und ihrer Caritas kommt in Bewegung, in: Recht der Arbeit 70 (2017) 189–192; Hermann Reichold/Tabea Kulschweski, Wie funktioniert der Dritte Weg nach dem Streik-Urteil des BAG vom 20.11.2012. Erste Ergebnisse einer Erhebung der Tübinger Forschungsstelle für kirchliches Arbeitsrecht im Juni 2015, in: Zeitschrift für Arbeits- und Tarifrecht in Kirche und Caritas 4 (2016) 50–54.

[19] Vgl. hierzu ausführlich Alfred E. Hierold, Die Arbeitsgerichtsbarkeit der Katholischen Kirche in der Bundesrepublik Deutschland, in: Stephan Haering/Johann Hirnsperger/Gerlinde Katzinger/Wilhelm Rees (Hg.): In mandatis meditari. Festschrift Hans Paarhammer (Kanonistische Studien und Texte 58), Berlin 2012, 617–680.