Ordnung für die Behandlung und Archivierung von Akten im Sinne des can. 1719 CIC sowie von Akten, die im Zusammenhang mit Straftaten im Sinne des Motu proprio „Sacramentorum Sanctitatis Tutela“ entstanden sind

Seit 2002 gibt es in der Diözese Rottenburg-Stuttgart die sogenannte „Kommission sexueller Missbrauch“ (KsM). Mit ihr geht der Bischof von Rottenburg-Stuttgart einen gegenüber den übrigen deutschen (Erz-)Diözesen eigenen Weg, Fälle sexuellen Missbrauchs durch Kleriker in der Diözese beurteilen und ggf. kirchenrechtlich verfolgen zu lassen.[1] Zu den hierfür erlassenen diözesanen Bestimmungen gehört u. a. die „Ordnung für die Behandlung und Archivierung von Akten im Sinne des can. 1719 CIC sowie von Akten, die im Zusammenhang mit Straftaten im Sinne des Motu proprio ,Sacramentorum Sanctitatis Tutela‘ entstanden sind“, vom 24. Juni 2005.[2]

Das Rottenburger Konzept, die Plausibilitätsbeurteilung von Hinweisen auf sexuellen Missbrauch seitens der KsM mit der sog. kanonischen Voruntersuchung zu vernetzen (➜ Kommentar „Umgang mit sexuellem Missbrauch"), führt dazu, dass den KsM-Mitgliedern Aktenstücke in Kopie zugänglich gemacht werden, die anschließend der universalkirchenrechtlichen Geheimarchivierungspflicht unterliegen: Unabhängig davon, ob ein Strafverfahren eingeleitet wird oder nicht, sind alle Akten einer kanonischen Voruntersuchung im bischöflichen Geheimarchiv zu verwahren (can. 1719 CIC). Jeder Diözesanbischof ist universalkirchenrechtlich verpflichtet, in seiner (Erz-)Diözese ein solches Geheimarchiv vorzuhalten (can. 489 § 1 CIC). Nur er darf den Schlüssel dazu haben (can. 490 § 1 CIC) und ist somit in der Regel der einzige, der sich rechtmäßig über frühere Beschuldigungen bzw. Verfahren gegen Kleriker in seinem Zuständigkeitsbereich informieren kann.[3] Aus dem Geheimarchiv dürfen ausdrücklich „keine Dokumente herausgegeben werden“ (can. 490 § 3 CIC). Zudem müssen Akten aus Strafsachen in Sittlichkeitsverfahren nach dem Tod des Beschuldigten bzw. zehn Jahre nach seiner Verurteilung vernichtet werden; aufzubewahren ist lediglich „ein kurzer Tatbestandsbericht mit dem Wortlaut des Endurteils“ (can. 489 § 2 CIC).

Wem auch immer im Bischöflichen Ordinariat oder in der KsM Originale zugehen, muss diese unverzüglich an das Geheimarchiv abgeben; es darf nur mit Kopien gearbeitet werden (Art. 2 Abs. 1). Wer Kopien erhält oder anfertigt, muss sie spätestens nach Abschluss des Vorgangs ebenfalls an das Geheimarchiv der Diözesankurie abgeben (Art. 2 Abs. 2). Das gilt ausdrücklich auch für die KsM-Mitglieder nach Beendigung eines Verfahrens (Art. 4 Satz 2). Bei digitalisierten Aktenstücken impliziert dies eine sichere Löschung etwaiger lokaler Kopien. Während der Beratungen sind alle Dokumente wie auch die aus ihnen gewonnenen Erkenntnisse strikt vertraulich zu behandeln und alle Unterlagen vor dem Zugriff Dritter zu schützen (Art. 3).

Mit der geltenden Ordnung sichert der Bischof von Rottenburg-Stuttgart die Einhaltung universalkirchlicher Bestimmungen zur Verwahrung von Voruntersuchungsakten. Wird die KsM ggf. Jahre nach einem ersten Tatvorwurf mit einer erneuten Beschuldigung desselben Klerikers konfrontiert, steht Wissen aus der damaligen Voruntersuchung allerdings nur dann zur Verfügung, wenn sich einzelne Kommissionsmitglieder, Gäste oder Berater ‒ personelle Kontinuität vorausgesetzt ‒ daran erinnern. Die Geheimarchivierungspflicht der Akten bedeutet im Umgang mit Mehrfach- oder Wiederholungstätern eine nicht geringe Erschwernis, da später mitgeteilte Vorwürfe gegen frühere Beschuldigte ja Anlass geben können, einen damals als unbewiesen bewerteten Verdacht neu zu überprüfen. In dieser aufgrund universalkirchenrechtlicher Vorgaben unbefriedigenden Situation erhöht das Rottenburger Kooperations-Modell zwischen KsM und Voruntersu­chungsführer/innen aber zumindest die Wahrscheinlichkeit, dass sich jemand an etwaige frühere Vorwürfe erinnert und dieses Wissen in die Beratung und Bewertung eines aktuellen Falles einbringt.

Autor: Bernhard Sven Anuth, zuletzt aktualisiert am: 01.04.2022.

Fußnoten

[1] Vgl. hierzu ausführlich Bernhard Sven Anuth, Die Rottenburger „Kommission sexueller Missbrauch“. Eine diözesane Umsetzung der Deutschen Bischofskonferenz, in: De Processibus Matrimonialibus 23 (2016) 9–49 bzw. als Überblick Bernhard Sven Anuth, Ein Modell mit Vorbildfunktion? Die Rottenburger „Kommission sexueller Missbrauch“, in: Theologische Quartalsschrift 196 (2016) 184–190.

[2] Vgl. Ordnung für die Behandlung und Archivierung von Akten im Sinne des can. 1719 CIC sowie von Akten, die im Zusammenhang mit Straftaten im Sinne des Motu proprio „Sacramentorum Sanctitatis Tutela“ entstanden sind, in: ABl. Rottenburg-Stuttgart 112 (2005) 198 f.

[3] Vgl. etwa Francesco Coccopalmerio, [Kommentar zu c. 490], in: Ángel Marzoa/Jorge Miras/Rafael Rodríguez-Ocaña (Hg.), Exegetical commentary on the Code of canon law, Vol. II/2, Montreal u. a. 2004, 1161 f., 1162 oder Georg Bier, in: Münsterischer Kommentar zum Codex Iuris Canonici can. 490, Rn. 2 (Stand: Dezember 1999).